Wie sich Falschinformationen verbreiten
Stell dir vor, es ist der Abend vor Halloween im Jahr 1938. Du sitzt in deinem Wohnzimmer und lauscht dem Radioprogramm. Das Radio ist noch eine recht neue Erfindung, weshalb du ganz besonders stolz auf dein High-End Entertainment-System bist. Für später am Abend ist eine coole Bauchredner-Show angesagt, auf die du dich schon schon ziemlich freust (frag einfach nicht, wie du sicher sein kannst, dass da wirklich ein Bauchredner seine Künste zeigt und nicht einfach jemand in ein Mikrofon spricht…). Auf einmal wird das Konzert, das du gerade hörst, von einer Eilmeldung unterbrochen: Auf dem Mars werden ungewöhnliche Bewegungen beobachten, unidentifizierte Objekte bewegen sich auf die Erde zu. Ein Journalist befindet sich auf dem Gelände einer Sternwarte und spricht dort mit einem Astronomen über die zweifellos verstörenden Beobachtungen. Das Konzert geht weiter, wird aber bald wieder von neuen, noch beunruhigenderen Nachrichten unterbrochen: Außerirdische sind auf der Erde gelandet. Sie greifen an – ohne jede Gnade. Die Menschheit ist offensichtlich in großer Gefahr. Vor deinem Fenster siehst du Leute in Panik umherrennen, viele rufen bei der Polizei und dem Radiosender an. Du beschließt, dich erstmal in den Schlafzimmerschrank zu flüchten. Am nächsten Tag findet eine Pressekonferenz statt. Wie sich herausstellt, war das alles nur ein Schwindel. Ein Radio-Hörspiel, um genau zu sein – ein ganz neues Konzept und in diesem Fall von einem jungen Mann namens Orson Welles entwickelt. Es basiert auf dem Roman “Der Krieg der Welten” von 1898. Upsi.
Zurück ins Jahr 2020. Die Story, die du gerade gelesen hast, mag heute witzig klingen – wieso haben die Leute 1938 nicht bemerkt, dass das nicht echt war? Naja, sie hatten nicht dieselbe Medienkompetenz wie wir heute. Sie waren daran gewöhnt, dass fiktionale Inhalte immer klar als solche gezeichnet wurden. Können wir von den Menschen heute also mehr erwarten, angesichts dessen, dass sie lebenslange Erfahrung mit verschiedenen Medienformaten und Technologien mitbringen? Tatsächlich ist die Geschichte rund um Welles Hörspiel noch immer Teil des Lehrplans in vielen sozialwissenschaftlichen Studiengängen – als Beispiel für die Manipulationsmacht der Medien und dafür, wie viel Menschen ohne jeden Beweis bereit zu glauben sind. Und das alles andere als zufällig.
Wir hören schließlich tagtäglich von Falschinformationen, von neuen sonderbaren Geschichten auf Blogs, in sozialen Medien oder sogar aus dem Mund prominenter Personen. Ganz offensichtlich sind Menschen nach wie vor bereit, eine ganze Menge zu glauben. Aber warum? Wie ist es möglich, dass sich Falschinformationen so schnell und weit verbreiten können? Und wo kommen sie überhaupt her?
Die Basics: Was sind Falschinformationen und wieso ist das wichtig?
Vielleicht hast du schonmal die Ausdrücke ‘Fehlinformation’ und ‘Desinformation’ gehört, bist aber nicht ganz sicher, was der Unterschied zwischen ihnen ist? Tatsächlich bedeuten die Begriffe nicht dasselbe, auch wenn es in beiden Fällen um sachlich falsche Informationen geht. Diejenigen, die ‘Fehlinformationen’ verbreiten, glauben deren Inhalt in der Regel. Dagegen sind ‘Desinformationen’ Inhalte, die “nachweislich falsch oder irreführend […] sind und zum Zwecke eines finanziellen Gewinns oder um die Öffentlichkeit bewusst zu täuschen gestreut werden” (Quelle).
Leider ist es nicht möglich, den Anteil bewusst irreführender Nachrichten unter den Falschinformationen eindeutig zu beziffern. Studien haben allerdings gezeigt, dass Menschen in Europa mehr als 29 Milliarden Mal pro Jahr mit Falschinformationen in Kontakt kommen. 75 Prozent sehen etwa einmal pro Woche Falschinformationen, bei 37 Prozent passiert das sogar täglich. Das Problem daran ist nicht nur, dass sie dadurch ‘schlecht informiert’ sein könnten: Falschinformationen kosten die Weltwirtschaft rund 78 Milliarden US-Dollar jedes Jahr und, was noch schlimmer ist, sie stellen eine Bedrohung für die Demokratie und effizientes Regieren dar. Außerdem sind sie schwer einzudämmen: Untersuchungen zeigen, dass sich falsche Informationen “schneller, stärker und weiter” verbreiten als korrekte. Falschinformationen sind jedoch kein neues Phänomen; sie haben es mit dem Aufstieg digitaler Nachrichten und sozialer Netzwerke nur erst kürzlich wieder auf unseren Schirm geschafft. Und gerade in den letzten Monaten florieren sie besonders, was angesichts aller Ungewissheit und Verwirrung, die die Pandemie mit sich gebracht hat, nicht überrascht.
Angriff der Falschinformationen: Wo kommen sie überhaupt her?
Desinformation ist ein breit gefächertes, komplexes Phänomen, bei dem Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, politische Instanzen (Regierungen und Parteien) und die Medien involviert sind. Dennoch ist es unbestreitbar, dass Online-Plattformen und insbesondere soziale Netzwerke, die auf Kuratierung und Micro-Targeting von Inhalten setzen, ebenfalls eine wesentliche Rolle in Hinblick auf Desinformation spielen. Das wahre Problem rund um Falschinformationen entsteht im Zuge des Schaffens, Verteilens und Verbreitens von Desinformation, indem Einzelpersonen unwissentlich Inhalte konsumieren und teilen, die zur Irreführung und Fehlinformation gedacht sind. Auch wenn diese Probleme offensichtlich miteinander zusammenhängen, so spielen doch verschiedene politische Fragen eine Rolle, die wiederum maßgeschneiderte Lösungen erfordern.
Raegan MacDonald, Head of Public Policy bei Mozilla
Fehl- und Desinformation sind also unterschiedliche, aber sehr komplexe Sachverhalte – eine einfache Erklärung gibt es nicht. Wir wissen allerdings, dass Social Media einer der Orte ist, an denen sie am häufigsten auftreten und sich verbreiten. Aber wieso?
Die rolle der sozialen Medien…
Auf deinem liebsten sozialen Netzwerk bist du vermutlich mit Menschen, die du (direkt oder indirekt) kennst sowie mit Marken und Medien, die du magst, verbunden – unabhängig davon, ob sie dir empfohlen wurden oder die Initiative von dir ausging. Das ist auch an sich nicht verkehrt. Aber es kann dazu führen, dass du in eine Filterblase gerätst, die sich sozusagen ständig selbst verstärkt und möglicherweise zu einer immer stärkeren Polarisierung führt. Denn du siehst vor allem Informationen, von denen der Algorithmus des sozialen Netzwerks glaubt, dass sie für dich interessant sein können. Je mehr du auf diese Empfehlungen eingehst, desto wahrscheinlich ist es, dass dir immer mehr Content derselben Art angezeigt wird – mit denselben Themen und derselben Grundeinstellung. Wenn du nicht daneben noch andere, womöglich auch konträr eingestellte Medien frequentierst, um ganz bewusst einen breiteren Überblick über Ereignisse und Meinungen zu erlangen, könntest du irgendwann blind glauben, was dir von früh bis spät angeboten wird. Vielleicht sind diese Inhalte sogar sachlich richtig – vielleicht sind es aber auch Falschinformationen.
Bei Desinformation spielt der Algorithmus ebenfalls eine wichtige Rolle und zwar gepaart mit den übergeordneten Problemen, die sich aus dem grenzenlosen Sammeln von Nutzerdaten ergeben. Denn so erhalten alle möglichen Instanzen umfassende Informationen über dich, die weit über deine Social-Media-Aktivitäten hinausgehen. Und das wiederum macht es ihnen sehr leicht, dir Anzeigen aller Art anzuzeigen, die alle das Ziel verfolgen, dich zu beeinflussen. Das kann beispielsweise Marken- oder politische Werbung sein, aber auch gezielt eingesetzte Desinformation mit rassistischem, homophobem, extremistischem und anderweitig problematischem Inhalt.
Vielleicht denkst du dir jetzt, dass es doch ganz einfach zu bemerken ist, wenn Content dich zu beeinflussen versucht. Manchmal ist das sicher auch der Fall. Aber der Newsfeed in deinem sozialen Netzwerk verändert sich nicht über Nacht: Der Algorithmus bietet dir Empfehlungen und möglicherweise fragwürdige Informationen nach und nach an, fütter dich sozusagen Biss für Biss mit ihnen. Das passiert so langsam, dass du die Veränderung gar nicht bemerkst. Aber über die Zeit hinweg wird es dir viel leichter fallen, Dinge zu akzeptieren, die du vor einer Weile noch ausgeschlossen hättest – ganz einfach, weil du schon so oft mit ähnlichen Informationen konfrontiert warst. Wissenschaftler bezeichnen das als Wahrheitseffekt. Leider sind wir Menschen zugleich auch eher bereit, etwas zu glauben, das unsere bestehenden Einstellungen und Vermutung bestätigt. Das wird dann wiederum Bestätigungsfehler genannt.
Wieso Menschen Falschinformationen glauben
Bleibt noch die Frage, wieso jemand tatsächlich etwas glauben wollen, das sachlich falsch sein könnte – schließlich sehen die meisten doch immer noch andere Nachrichten oder haben Kontakt zu Leuten, die nicht in ihrem engsten Kreis sind. Wieso halten sie an fragwürdigen Ansichten selbst dann noch fest, wenn ihnen Informationen vorgelegt werden, die das Gegenteil beweisen? Und wieso sind radikale Meinungen und Verschwörungstheorien heute populärer denn je?
Wie so oft im Leben gibt es dafür eine ganze Reihe verschiedener Gründe. Einer davon ist der zuvor erwähnte Bestätigungsfehler. In anderen Fällen suchen Menschen einfach nach Bedeutung oder einem tieferen Sinn. Ein weiterer Grund ist, so das US-Magazin Psychology Today, eine gewisse Faulheit unseres Gehirns, deretwegen wir einfache Erklärungen den komplizierten Alternativen und eigener Überprüfung vorziehen. Das gilt vor allem in der heutigen Zeit, in der unser Leben unheimlich komplex geworden ist und uns zu jedem Zeitpunkt zu viele Informationen zur Verfügung stehen, um sie in Gänze zu verarbeiten. Nicht zu vergessen ist außerdem die Rolle von sozialem Druck: In Übereinstimmung mit deinen Einstellungen bist du höchstwahrscheinlich Teil einer Gruppe im Internet oder offline (oder beides), die deine Ansichten teilt. Von denen, die anderer Meinung sind, hälst du dich eher fern. Und da dir deine Gruppe und ein Zugehörigkeitsgefühl wichtig sind, wirst du ihre Grundsätze eher nicht infrage stellen.
Gibt es ein Gegenmittel?
Es ist wichtig anzuerkennen, dass es keine Patentlösungen für den Problemkomplex der Fehlinformation und Desinformation im Internet gibt – die Lösung muss so umfassend und dynamisch sein wie das Problem selbst.
Raegan MacDonald, Head of Public Policy bei Mozilla
Angesichts der Komplexität des Problems ist es am sinnvollsten, es Schritt für Schritt und Ebene für Ebene anzugehen. Als erstes müssen wir dabei zwischen Maßnahmen unterscheiden, die jede*r einzelne von uns ergreifen kann und Lösungen, bei denen Plattformen, Wissenschaftler und Regierungsvertreter gefragt sind.
Wenn du dich fragst, was du tun kannst, um Falschinformationen zu erkennen, nie wieder auf sie reinzufallen oder sie versehentlich zu verbreiten, möchten wir dir diesen Blog Post ans Herz legen. Hier haben wir eine ganze Menge Tipps und Vorschläge zusammengetragen. Vielleicht möchtest du dir zudem auch mal Pocket ansehen, einen Service, der dir kuratierte Inhalte anbietet, die deine Zeit wert sind und der dabei deine Privatsphäre respektiert.
Wie wir das Web-Ökosystem verbessern können
Wenn es um systemische und technische Lösungen geht, sprechen wir eher von längerfristigen Bemühungen. Aber wo fängt man da an?
Ein entscheidender erster Schritt, um die notwendigen Lösungen zu finden, sind systematische Einsichten und Belege. Das bedeutet mehr Transparenz darüber, wie sich Desinformation im Online-Ökosystem ausbreitet, insbesondere im Zusammenhang mit der algorithmischen Kuration von Inhalten und Online-Werbepraktiken. Ein wichtiges Element unserer politischen Arbeit in Europa und darüber hinaus besteht darin, dafür zu sorgen, dass diese Transparenzmechanismen zum Tragen kommen. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, daran zu denken, dass Transparenz kein Selbstzweck ist. Sie ist vielmehr ein Mittel, mit dem wir zu dem längerfristigen Ziel einer echten Rechenschaftspflicht gelangen können.
Raegan MacDonald, Head of Public Policy bei Mozilla
Seit vielen Jahren schon setzt sich Mozilla an vielen Stellen für ein Internet ein, das kritisches Denken, durchdachte Argumentation, geteiltes Wissen und belegbare Tatsachen fördert. Wir haben den EU Code of Practice on Disinformationen unterzeichnet, Facebook dazu aufgerufen, politische Werbung auf seiner Plattform transparenter zu gestalten und Twitter gebeten, sein Feature ‘Trending Topics’ bis nach den US-Präsidentschaftswahlen 2020 zu pausieren. Damit möchten wir erreichen, dass sich Falschinformationen in diesem hochsensiblen Kontext nicht viral verbreiten können. Die Mozilla Foundation hat außerdem vor kurzem ein Tool namens RegretsReporter veröffentlicht, um unter Mitwirken seiner Nutzer*innen den Empfehlungs-Algorithmus bei YouTube besser zu verstehen.
Darüber hinaus haben wir den verbesserten Tracking-Schutz (ETP) standardmäßig in allen Firefox-Browsern aktiviert, um unsere Nutzer*innen vor allgegenwärtigem Tracking und dem Sammeln von persönlichen Daten durch bekannte Werbenetzwerke und Tech-Unternehmen zu schützen. ETP blockt viele Drittanbieter-Cookies automatisch, sodass weniger Informationen über unsere Nutzer*innen abgegriffen und genutzt werden können, um sie online zu beeinflussen.
So kämpft die Welt gegen Falschinformationen
Glücklicherweise gibt es noch viele Institutionen, Organisationen und Forscher*innen neben Mozilla, die daran arbeiten, die Ausbreitung von Falschinformationen einzudämmen. Die Europäische Kommission stellt beispielsweise offizielle Informationen zur Pandemie für User bereit. EUvsDiSiNFO teilt Studien, Analysen und bietet sogar einen Newsletter an, um über Desinformation zu informierten. Großbritannien hat 18 Millionen Pfund in einen ‘Fake News Fund’ für Osteuropa investiert, während die EU 5,5 Millionen US-Dollar für ein Frühwarnsystem ausgegeben hat, mit dessen Hilfe EU-Mitgliedsstaaten Desinformationskampagnen erkennen können. Und Kanada hat wiederum 7 Millionen US-Dollar an Projekte gespendet, die das öffentliche Bewusstsein für Falschinformationen stärken sollen.
In diesem Bericht findest du weitere Informationen zu den verschiedenen Maßnahmen, die Regierungen und Unternehmen bisher ergriffen haben. Es muss allerdings noch so viel mehr getan werden, um die Verbreitung von Falschinformationen zu stoppen und Nutzer*innen Vertrauen in Online-Inhalte zurückzugeben. Du hast einen Anfang gemacht, indem du diesen Blog Post gelesen hast. Noch mehr kannst du tun, indem du auf deiner Reise durchs Web aufmerksam bleibst, dein Wissen mit anderen teilst, Bewusstsein für die Lage schaffst und so letztendlich dazu beiträgst, den Druck auf Plattformen wie Facebook und YouTube zu erhöhen, sodass sie echte Veränderungen vornehmen.
Man sagt, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen – und ganz ähnlich bedarf es einer kritischen Menge an Nutzer*innen, um das Internet zu verbessern. Also lasst es uns zusammen besser und sicherer machen!