Der Großangriff auf die Privatsphäre ist eine deutsche Erfindung.

Illustration: Jonas Bergstrand

In den achtziger und neunziger Jahren war das Recht auf Privatsphäre in Deutschland eine zentrale Forderung der Bürgerrechtsbewegung. Millionen von Menschen gingen auf die Straße und protestierten gegen die Speicherung von persönlichen Informationen. Heute wehren sich nur wenige Menschen gegen den täglich Einbruch in ihre Privatsphäre, obwohl man schon beim Eröffnen eines Facebook-Accounts mehr persönliche Daten preisgeben muss als in den großen staatlichen Volksbefragungen der achtziger Jahre. Dieser Essay behandelt in drei Teilen den Zusammenhang von Metadaten und Privatsphäre. Er verweist auf die Ursprünge in den 1970er Jahren und versucht zu erklären, weshalb die Deutschen ein besonderes Verhältnis zur Privatsphäre haben.

Anfang der 1980er Jahre kündigte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland eine bundesweite Volkszählung für den 27. April 1983 an. Dies war an sich nichts Ungewöhnliches. Es hatte nach dem Krieg mehrere Zählungen gegeben, um mehr Klarheit über die krassen Veränderungen in der Bevölkerung zu bekommen. Noch in den 1960er Jahren konnte niemand genau sagen, wie viele Deutsche zwischen 1933 und 1945 getötet, geflohen oder ihren Wohnsitz verloren hatten. Allein die Schätzungen der Kriegstoten schwankte erheblich zwischen 5,5 und 6,8 Millionen Menschen. Die Notwendigkeit dieser Zählungen war leicht einzusehen und die Bevölkerung akzeptierte sie weitgehend ohne Protest. Doch Anfang der achtziger Jahre hatte sich die Lage verändert.

Im Februar 1981 demonstrieren 100.000 Menschen gegen den Bau eines Atomkraftwerkes in Brockdorf – einem norddeutschen Dorf mit tausend Einwohnern. Im November 1981 gingen in Wiesbaden mehr als 120.000 Menschen gegen den Bau einer neuen Startbahn des Frankfurter Flughafens auf die Straße. Als der US-Präsident Ronald Reagan im Juni 1982 Deutschland besuchte, fand in der damaligen Hauptstadt Bonn eine Demonstration mit rund 500.000 Menschen gegen den Nato-Doppelbeschluss statt.

Friedens-Demonstration in Bonn 1981. Foto: Creative Commons

Teile der Deutschen Bevölkerung demonstrierten sich in einen Rausch und übten durch die physische Präsenz als Demonstranten erheblichen Druck auf die völlig konsternierte Regierung aus. In dieser Situation, ein Jahr vor dem Orwellschen Jahr 1984, nach zehn Jahren Terrorismus der RAF und Rasterfahndung, exakt 50 Jahre nachdem die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernommen hatten, war es sicher keine gute Idee, die Bevölkerung nach persönlichen Daten zu fragen.

Darf der das? Der Computer in der Gesellschaft

In den siebziger Jahren hatte sich an den Universitäten nämlich noch eine andere Bewegung formiert und es zeigte sich, dass die Proteste gegen die Volkszählung durch sie noch eine andere Bedeutungsebene bekamen: die Rolle des Computers in der Gesellschaft. Diese Diskussion hatte Ende der 1960er Jahre begonnen und ging im Kern darum, ob die neuen Methoden der Datenspeicherung und Datenverarbeitung in einen Überwachungsstaat münden könnten. Explosiv war vor allem die Frage, wer welche Daten zu welchem Zweck erheben, speichern und auswerten durfte.

Eine der führenden Figuren in dieser Diskussion war der aus Griechenland eingewanderte Wissenschaftler Spiros Simitis, auch bekannt unter dem Namen “Prof. Dr. Datenschutz”. Der Rechtswissenschaftler hatte sich als einer der ersten für den Schutz von persönlichen Informationen eingesetzt und 1970 in Hessen das erste Datenschutzgesetz der Welt durchgesetzt. Der Kern dieses Gesetzes bildet bis heute unverändert das Ziel aller Datenschutz-Bemühungen: Wer Daten erhebt, muss verbindlich definieren, zu welchem Zweck er sie erhebt. Er muss sich verpflichten, die Daten nur zu diesem definierten Zweck zu nutzen und hat sich dann an diese Verpflichtung zu halten.

Doch genau in dem Jahr, in dem Simits das erste Datenschutzgesetz feierte, befreite ein Kommando um die ehemalige Journalistin Ulrike Meinhof den in Berlin inhaftierten Terroristen Andreas Baader. Die Gruppe setzte sich nach Jordanien ab, ließ sich militärisch ausbilden und verübte in den folgenden Jahren unter dem Namen Rote Armee Fraktion “gezielt tödliche Aktionen”, wie es im Terroristen-Jargon hieß. Diese völlig neue Bedrohung des Staates und seiner Eliten erforderte neue Kompetenzen und Persönlichkeiten, sodass es in der Rückschau nicht erstaunt, dass ein Mann wie Horst Herold zu einem der bekanntesten Männer der Bundesrepublik aufstieg und im Fernsehen Ende der siebziger Jahre häufiger zu sehen war als der Bundeskanzler.

Der ehemalige Frontsoldat Herold war in Nürnberg unter Kommunisten aufgewachsen und hatte Zeit seines Lebens Sympathien für politische Positionen der Linken. Gleichzeitig besaß er ein ausgeprägtes technisches Interesse und eine überragende Fähigkeit zu systematisch-strategischem Denken. Als Leiter der Kriminalpolizei seiner Heimatstadt erkannte er als erster die Möglichkeiten von Big Data für den Fahndungserfolg und Verbrechensprävention durch Computertechnologien.

Algorithmus gegen Terrorismus?

Mit Hilfe einer neuen datengestützten “Kriminalgeologie” konnte er um das Jahr 1970 auf der Basis von zurückliegenden Verbrechen die Wahrscheinlichkeit eines neuen Verbrechens in einer bestimmten Region zu einer bestimmten Zeit voraussagen und große Erfolge mit dieser Methode erzielen. Als Präsident der Bundeskriminalamtes, zu dem er 1971 ernannt wurde, erfand er die “negative Rasterfahndung”, die durch den Abgleich verschiedener Datenbanken 1979 zur Verhaftung des Terroristen Rolf Gerhard Heißler führte.

Horst Herold erklärt das Rechenzentrum des Bundeskriminalamtes. Foto BKA.

Das BKA wusste damals, dass sich die Terroristen in Frankfurt aufhielten und ihre Stromrechnung nicht von ihrem eigenen Konto überweisen konnten, denn dann wäre ihr Name in der Kartei der Stadtwerke aufgetaucht und für die Polizei sichtbar gewesen. Zum Kreis der Verdächtigen zählten folglich alle Bürger der Stadt Frankfurt, die ihre Stromrechnung bar bezahlten und deren Namen sich nicht als echte Namen verifizieren ließen. Es waren drei Personen, von denen einer der Terrorist war.

Die Deutschen lernten die Einsatzmöglichkeiten des Computers also durch die Rasterfahndung und die damit verbundene größte Polizeiaktion der Nachkriegsgeschichte kennen. Der Staat führte ihnen nicht nur vor, wie viele Daten er über seine Bürger speichert, sondern auch welche Spuren jeder Einzelne durch die Daten hinterlässt. Viele Menschen fühlten sich durch diese Methode zu Unrecht kriminalisiert und behielten ein Gefühl von Misstrauen gegenüber Staat und Computer zurück. Denn auch wenn die negative Auslese der Rasterfahndung den Kreis der Verdächtigen schnell verkleinerte, stellte sie anfänglich doch sehr viele Bürger formal unter Verdacht.

Herold selbst sprach in der Öffentlichkeit regelmäßig davon, dass er die Terroristen “zwingen wolle, Spuren zu hinterlassen”, was sicher nicht dazu beigetragen hat, das Mißtrauen zu zerstreuen. Eine Wunderwaffe konnte das BKA mit seinen Computeranalysen außerdem nicht vorweisen. Den Mord am Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer, den aller Wahrscheinlichkeit der oben erwähnte Rolf Gerhard Heißler exekutiert hatte, konnten auch siebzigtausend Hinweise aus der Bevölkerung nicht verhindern. Jemand hatte vergessen, den entscheidenden Hinweis in die Datenbank einzugeben.

Ist Privatsphäre ein Grundrecht?

Im zwanzigsten Jahrhundert kam nur die Regierung für eine Datensammlung in Frage, die groß genug war, um eine Gesellschaft zu verändern. Private Unternehmen spielten hingegen keine Rolle – im Gegenteil: Privatisierung schien eine der möglichen Lösungen gegen die Datenhoheit des Staates zu sein. Am Ende hat der Staat aber bis heute die längeren Hebel und das einzige Mittel, die Zustände zu beeinflussen, war damals wie heute der Druck von der Straße. In der Zeit vor dem Internet musste die Bevölkerung freilich physisch auftreten, um eine Regierung zu einem Richtungswechsel zu bewegen – und weil von der parlamentarischen Opposition kein Widerspruch zu erwarten war, mussten die Protestierenden die Gerichte auf ihre Seite bringen.

Als Schlüsselfigur des Datenschutzes in Deutschland beriet Simitis, der 1979 kennzeichnender Weise noch an einem Buch mit dem Titel “der Weg in den totalen Überwachungsstaat” mitgearbeitet hatte, selbstverständlich auch die Bundesregierung bei der Erarbeitung des Volkszählungsgesetzes. Er hatte als einer der wenigen fortschrittlich orientierten Gutachter auch verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, doch die Bundesregierung nahm diese nicht ernst. Ihre Geduld war am Ende.

© DER SPIEGEL 32/1983
© DER SPIEGEL 1/1983

Nach vier Jahren Beratungszeit wollte sie die Volkszählung endlich durchführen. Eine Verzögerung oder gar ein Scheitern hätten einen Gesichtsverlust der neuen konservativen Regierung mit dem neuen Kanzler Helmut Kohl bedeutet, die sich 1982 erst durch ein Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst an die Macht gebracht hatte und diese 1983 in einer vorgezogenen Wahl bestätigen lassen sollte.

Die Regierung wollte auch keine einzelnen Fragen aus dem Katalog herausnehmen, denn sie hatte bereits 370 Millionen Mark in den Haushalt eingestellt und wollte für dieses Geld naturgemäß so viele Daten wie nur möglich erheben. Da die Volkszählung noch von der sozialdemokratischen Vorgängerregierung initiiert worden war, hätte auch die Opposition ihr Gesicht verloren, wenn herausgekommen wäre, dass die Volkszählung die Privatsphäre der Bürger verletzt. Der Widerstand konnte deshalb nur aus der Bevölkerung kommen und die musste den Protest erst einmal organisieren.

Eine entscheidende Persönlichkeit in der Organisation dieses Protestes war der Hamburger Informatik-Professor Klaus Brunnstein. Er hatte wie Sinitis in Marburg studiert, war als promovierter Physiker nach Hamburg gegangen und hatte dort den Studiengang Informatik mitbegründet. Als junger Professor teilte er die skeptische Grundhaltung der neuen Studentengeneration gegenüber Staat, Behörden und großen Unternehmen. Weil er als Informatiker wusste, welche Möglichkeiten die Datenverarbeitung bot – im positiven wie im negativen Sinne – ging es in seiner ersten einführenden Vorlesung in das Fach Informatik stets um die ethischen Grundlagen der Computer-Technologien.

Als die Statistiker der Bundesregierung Anfang der 80er Jahre die Volkszählung immer wieder mit dem Argument verteidigten, die erhobenen Daten würden doch anonymisiert, führte er mit einer jungen Diplomandin den Beweis vor, dass alle anonymisierten Daten leicht re-identifiziert werden könnten. Man müsse lediglich die erhobenen Daten mit bereits vorhandenen Daten, etwa aus der Einwohnermeldekartei, koppeln und schon könne man die anonymisierten Datensätze wieder mit einer konkreten Person verbinden. Brunstein klagte mit einigen anderen vor dem Bundesverfassungsgericht.

Das Urteil des Gerichts war in seiner Deutlichkeit vollkommen überraschend und für den Schutz der Privatsphäre in etwa das, was für die Presse die “Spiegel-Affäre” von 1962 oder Entscheidung des Obersten Gerichtshofes für die New York Times im Fall der Veröffentlichung der Pentagon Papers 1971 war. Das Bundesverfassungsgericht verbot die Volkszählung mit der Begründung, dass zu viele persönliche Informationen abgefragt und die Daten viel zu lange gespeichert werden sollten.

Wenn die Bürger der Bundesrepublik, so das Gericht, davon ausgehen müssen, dass der Staat ihr Verhalten jederzeit speichert und beobachtet, werden sich immer weniger Menschen anders als die große Mehrheit verhalten. Eine Demokratie lebe aber von individuellem Verhalten und von Menschen, die Bestehendes kritisch hinterfragen. Die Volkszählung sei deshalb nicht nur ein Angriff auf die Privatsphäre, sondern auf die Demokratie. Sie blockiere alternatives Verhalten und sei deshalb mit der Verfassung nicht zu vereinbaren.

Die Bundesregierung gab nicht auf. Sie verschob die Volkszählung um vier Jahre auf das Jahr 1987 und strich nun doch zahlreiche Fragen aus ihrem Katalog. Doch der Protest-Motor war auf Temperatur gekommen. Tausende Flugblättern gingen von Hand zu Hand und Telefonketten, die im Rahmen der großen Protestbewegung dieser Jahre entstanden waren, verfestigten ein Netzwerk, von denen Bürgerbewegungen in Deutschland bis heute profitieren.

An die Berliner Mauer klebten Aktivisten hunderte unausgefüllte Fragebögen. Im größten deutschen Fußballstadion schrieben Demonstranten kurz vor einem Bundesligaspiel zwischen Borussia Dortmund und dem HSV in riesigen Buchstaben die Parole “boykottiert und sabotiert die Volkszählung” mitten auf den Rasen. Der Platzwart wusste sich nicht zu helfen, denn ohne den Rasen zu ramponieren, ließ sich die Schrift nicht mehr entfernen. In seiner Not rief er beim Bundespräsidenten an und man kam auf die Idee, die Parole zu ergänzen und umzudeuten, so dass die Fans vor dem Spiel lasen: “der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht”.

Fußball Bundesligaspiel zwischen Borussia Dortmund und dem HSV 1987. Foto: imago.

Als die Volkszählung schließlich 1987 stattfand, beteiligten sich mehrere Millionen Bürger am Boykott oder füllten die Bögen falsch aus. Die Behörden verschicken zwar Bußgeldbescheide und leiteten Strafverfahren ein, doch die meisten wurde am Ende eingestellt. Die Bundesregierung hätte ihre Daten nun endgültig auswerten können. Doch dann fiel die Mauer.

 


Eine Serie in drei Folgen:

Teil 2: »Wenn wir das wüßten, Genossen, wären wir über alles hinaus«  >>

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